
Muss Birsfelden ihre Millionen wieder rausrücken?
1,5 Mio kassierte Birsfelden durch eine automatische Fahrzeugüberwachung. War sie rechtens? Es gibt bedenkenswerte Schriftsätze dazu.
06.10.2025 – Die Gemeinde wollte Umwegverkehr einen Riegel schieben und wurde erfinderisch. Wer in einem festgelegten Gebiet nicht mindestens eine Viertelstunde verweilt, wird mit 100 Franken gebüsst. Eine fix installierte Kamera schoss Bilder aller Verkehrsschilder. Die Methode nennt sich AFV, hier als automatische Durchfahrtskontrolle. Über eine Million Franken kam im letzten Monat bereits zusammen.
Diese automatisierte Fahrzeugüberwachung AFV ist jedoch umstritten. Sie wurde vom Bundesgericht schon wiederholt in Zweifel gezogen.
In einer Zusammenstellung dröselt Benjamin Stückelberger, Doktorand an der Universität Bern die Lage minutiös auf. Ich habe mitgelesen.
Momentan werde, so Stückelberger in seiner Einleitung, bei Revisionen der kantonalen Polizeigesetze ein bemerkenswerter Trend beobachtet: Reihenweise würden Regelungen zur automatisierten Fahrzeugüberwachung und Verkehrsüberwachung (AFV) in die Texte aufgenommen. So etwa in BL, BE, VS, GR, LU, AG, SO TG und NE.
Das Bundesgericht nahm sich der Sache aber an und taxierte in einem ersten Urteil die Reglung TG als verfassungswidrig (BGE 146 I 11). Die KKJPD erliess daraufhin einen Mustergesetzestext, worauf Kantone Anpassungen vornahmen. Es kam zu einem erneuten Entscheid. Diesmal betreffend SO. Hier wurden gewisse Voraussetzungen definiert, welchen der Einsatz der AFV zu genügen hat (BGE 149 I 218). Auch eine Regelung von LU wurde aufgehoben (Bger 1C_63/2023).
Hintergrund: Das als vom Bundesgericht als «einfache AFV» beurteilte Modell funktioniert wie folgt: Mittels mobiler oder stationärer Kameras werden die Kontrollschilder vorbeifahrender Fahrzeuge in systematischer Weise erfasst. Anschliessend werden sie mit einer oder mehreren Datenbanken abgeglichen. «Nichttreffer»-Daten werden gelöscht, andernfalls können die Daten für weitere polizeiliche Massnahmen genutzt werden. Nebst der simplen Erfassung der Kontrollschilder und deren Abgleich mit vorbestehenden Datenbanken ist es jedoch auch möglich, die Daten zu speichern und während eines Zeitraums rückwirkend zu durchsuchen. Das wäre dann eine «qualifizierte AFV». (Der Birsfelder Fall)
Benjamin Stückelberger geht nun der Frage nach, unter welchen grundrechtlichen Voraussetzungen AFV’s zulässig sind.
Eine automatische Fahrzeugfahndung stellt – gemäss BGer – in jedem Fall einen schweren Eingriff in die Schutzbereiche des Grundrechts auf persönliche Freiheit sowie des Rechts auf Privatsphäre, Schutz vor Missbrauch der persönlichen Daten und die informationelle Selbstbestimmung dar. Denn hier würden ohne konkreten Anlass eine serielle und simultane Verarbeitung grosser und komplexer Datensätze innert Sekundenbruchteilen ermöglicht. Zudem würden konkret mehr Daten als nur das Fahrzeugkennzeichen erfasst, so etwa die Gesichter von Fahrzeuginsassen. Jeder einzelne Bearbeitungsschritt stellt einen Eingriff in die Grundrechte dar. Das ist nicht grundsätzlich verboten. Aber es müssen gewisse Voraussetzungen erfüllt sein.
Dazu gehören der Schutz von Rechtsgütern und öffentliche Interessen von erheblichem Gewicht. Um Missbräuche und das Gefühl von Massenüberwachung (chilling effect) zu vermeiden müssen Schutzvorkehrungen vorliegen. Deshalb sind Umfang und Verwendungszweck der Datenerhebung gesetzlich sachbezogen einzugrenzen. Auch die Register sind klar gesetzlich zu fassen. Die Einsatzorte mobiler Kontrollen sind zudem zeitlich zu begrenzen (was für Birsfelden auch ein Knackpunkt werden könnte).
Was aber sind nun schützenswerte Rechtsgüter und öffentliche Interessen? Hierzu meint Stückelberger, das Bger lasse dies offen. In Deutschland wird dies mit Leib und Leben gleichgesetzt sowie Staatssicherheit. Das kann natürlich bei Fahrzeugfahndung gegeben sein. Für Stückelberger heisst dies jedoch: «Diese (AFV) darf daher nur eingesetzt werden, wenn damit bezweckt werden soll, Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder den Staat zu schützen (…)».
Ich beende an dieser Stelle die Beleuchtung des Schriftsatzes von Benjamin Stückelberger, im Bewusstsein, dass genügend klar geworden ist, dass Birsfelden ein Fall für die Gerichte werden dürfte.
Wer den vollen Wortlaut studieren will, klicke hier auf mehr
ps.31.10.: Ein Lesebrief im Blick vom 31.10. berichtet von einem Restaurant, dessen Gäste wegen der neuen Regelung ausblieben.






