In einigen Kantonen sind Gemeinden dazu übergegangen, Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind zu veranlassen, BVG-Vorbezüge zu tätigen. Dies kann und soll dazu führen, dass sie im Moment nicht auf Sozialhilfe der Gemeinde angewiesen sind. So wird das Gemeindebudget entlastet. Wenn die betroffene Person jedoch BVG-Gelder vorbezieht,

kann dies im Rentenalter zu Altersarmut führen, was die Bezüge von Ergänzungsleistungen

 

(Bundes- und Kantonsgelder) erhöht. Deshalb haben beispielsweise im Kanton Thurgau Turi Schallenberg und Marina Bruggmann, Mitglieder des Thurgauer Kantonsrats, den Regierungsrat in einem Vorstoss zu den Konsequenzen dieses Verhaltens angefragt.

 

Auslöser waren Medienberichte im TagesAnzeiger und in der Thurgauer Zeitung über Vorergebnisse einer Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Autoren sind Benedikt Hassler und Christophe Roulin.

 

Kommunalmanagement hat nachgefragt.

 

 

Kommunalmanagement: Sie sind bei Ihrer wissenschaftlichen Arbeit auf Diskrepanzen bei der Frage gestossen, wie Gemeinden mit der Frage umgehen, ob Sozialhilfe geleistet wird im konkreten Fall oder nicht. Haben Sie solche unterschiedliche Verhaltensweisen erwartet oder war das für Sie eine Überraschung?

 

Benedikt Hassler / Christophe Roulin: Für die konkrete Ausgestaltung der Sozialhilfe in der Schweiz sind die Gemeinden zuständig, die auf der Grundlage der kantonalen Gesetzgebunden Leistungen sprechen und Prozesse ausgestalten. Die SKOS-Richtlinien schaffen zwar einen Orientierungsrahmen, die 26 Kantone haben jedoch ihre eigenen Gesetze und Verordnungen, die sich voneinander unterscheiden. Deshalb ist die Sozialhilfe in der Schweiz ein Flickenteppich. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass in den Gemeinden unterschiedliche Vorgehensweisen in der Sozialhilfe aufzufinden sind. Der Grund dafür sind allerdings nicht nur die unterschiedlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen, sondern beispielsweise auch die Organisation und Professionalität der Sozialdienste. In Sozialdiensten grosser Gemeinden übernehmen in der Regel Sozialarbeitende die Sozialhilfeberatung und werden unterstützt durch eine interne Rechtsabteilung. In Sozialdiensten aus kleinen Gemeinden übernimmt eine Gemeinderätin oder der Gemeindeschreiber dieselben Aufgaben. Diese unterschiedlichen Ausgangslagen führen zu heterogenen Ergebnissen, wobei die grossen Sozialdienste nicht durchwegs adäquatere Lösungen oder bessere Leistungen für die Problemlagen der Klient:innen aufweisen. In unserer Studie führten wir Interviews in 31 Sozialdiensten in den Kantonen Aargau, Thurgau, Zürich, Schaffhausen und St. Gallen. Der kleinste Sozialdienst war in einer Gemeinde mit weniger als 1’000 Einwohnern, der grösste in einer Stadt mit mehr als 100’000 Einwohnern. Diese Ausgangslage ist zu unterschiedlich, als dass eine einheitliche Vorgehensweise zu erwarten wäre.

 

Wo orten Sie die Ursachen für diese Diskrepanzen? Sind diese historisch gewachsen oder werden dadurch politische Probleme verdeckt?

 

Unser Projekt hatte nicht primär zum Ziel, die Ursachen der Diskrepanzen zu ergründen. Für uns stand im Vordergrund, aufzuzeigen, worin die Unterschiede bestehen und wie gross die Spannbreite der Praktiken ist. Die SKOS erstellt jährlich ein Monitoring, in dem sie Sozialhilfeleistungen in den verschiedenen Kantonen miteinander vergleicht. Unsere Studie zeigt auf, dass konkrete Fallbeispiele nötig sind, um die unterschiedlichen Vorgehensweisen auf Gemeindeebene sichtbar zu machen. Nur eine solche Vorgehensweise schafft überhaupt eine Grundlage für eine politische Diskussion über die Sozialhilfe in der Schweiz. Bei all den von uns gefundenen Unterschieden stellt sich nämlich die Frage, ob diese gewollt sind und als legitim erachtet werden, oder nicht. Eine Vereinheitlichung aller Leistungen wäre nicht zielführend, so macht es beispielsweise Sinn, dass die Mietzinslimiten an die lokalen Gegebenheiten angepasst sind. Dass aber der Prozess der Festlegung der Mietzinsrichtlinie sehr unterschiedlich ausgestaltet ist und eine Gemeinde in unserer Studie die Limite alle 3 Monate anpasst und einen andere seit 20 Jahren gleichbelassen hat, ist schon eher fragwürdig. Deshalb wollen wir im Sommer 2023 im Rahmen von Gruppendiskussionen mit Entscheidungsträger:innen in drei Kantonen diskutieren, welche von uns identifizierten Unterschiede gewollt und legitimierbar sind und wo allenfalls politischer Handlungsbedarf besteht.

 

Was wäre aus Ihrer Sicht die Lösung, die getroffen werden müsste, um solche Diskrepanzen künftig zu verhindern?

 

Aus unserer Sicht braucht es erstmal gute empirische Daten zu den Prozessen und Leistungen in der Sozialhilfe, um überhaupt eine politische Diskussion führen zu können. Unsere empirischen Resultate zum BVG-Vorbezug in der Sozialhilfe haben beispielsweise zu einer Sensibilisierung für diese Thematik beigetragen. Denn auch diesbezüglich sind die Unterschiede sehr gross. Eine Gemeinde würde z.B. Klient:innen mit einem Freizügigkeitsvermögen bereits mit 58 Jahren keine Sozialhilfe mehr ausbezahlen. In anderen Gemeinden werden die Klient:innen, je nachdem im Einklang oder auch gegen geltendes kantonales Recht verpflichtet, die Altersvorsorge mit 60 zu beziehen und die Sozialhilfe wird eingestellt. Auch gibt es Gemeinden, in welchen Klient:innen mit der Altersvorsorge rechtmässig bezogene Sozialhilfe zurückzahlen müssen. Und gleichzeitig können Klient:innen mit Freizügigkeitsvermögen in vielen untersuchten Gemeinden ihr BVG-Vermögen bis zur Frühpension unangetastet lassen. Das Aufzeigen solcher Unterschiede hat einen Prozess angestossen, in dem es nun um die Frage geht, ob ein solcher Vorbezug politisch erwünscht ist, ob verbindlichere Regelungen und Kontrollinstanzen nötig sind und welche Folgen diese Praxis für die Klient:innen, die Gemeinden, die Kantone und den Bund haben. Wir begrüssen, dass diese politische Diskussion derzeit stattfindet.

 

Was bedeuten die Forschungsresultate nun für die Zukunft Ihrer Arbeit am Thema?

 

Mit unserem Anliegen, gute empirische Daten für die Diskussion zu Prozessen und Leistungen in der Sozialhilfe zu erheben, stehen wir erst am Anfang. Unsere Studie beschränkt sich aus Ressourcengründen derzeit auf 5 Kantone. Es wäre wünschenswert, die Sozialhilfe in der gesamten Schweiz verstärkt unter die Lupe zu nehmen. Dabei braucht es aus unserer Sicht eine sozialwissenschaftliche Perspektive in den Projekten. Unsere Studie zeigt nämlich, dass Sozialdienste bewusst und unbewusst von geltendem Recht abweichen, weshalb eine juristische Perspektive auf diese Thematik nicht ausreichend ist, sondern stets auch die Frage untersucht werden muss, wie Sozialdienste geltendes Recht interpretieren, umsetzen oder auch davon abweichen.  

 

Vielen Dank für dieses Gespräch.