Die Schweiz hat ein Handicap. Der öffentliche Verkehr ist nicht behindertengerecht. 70 Prozent der Haltestellen seien bis Ende Jahr nicht so ausgestattet, dass ein autonomes Ein- und Aussteigen für Menschen mit Behinderungen möglich sei. Von dieser Quote geht Caroline Hess-Klein aus, die im Verband „Inclusion Handicap“ für den Bereich zuständig ist.

Man könnte sagen, das sei zwar schade, doch woher nimmt man das betont Negative in dieser Quote? Immerhin sind ja 30 Prozent bereits behindertengerecht ausgestattet. Ist die Lage im Ausland besser? Wie sieht wohl dort die Quote aus? Vergleichszahlen fehlen.

Doch die 70 Prozent sind nicht aus der Luft gegriffen. Ursprung der Vorgabe ist – wie in vielen solchen Fällen – eine Volksinitiative.

Das Begehren mit dem einschlägigen Thema wurde am 02.06.1998 gestartet und nach rund einem Jahr Sammeldauer am 14.06.1999 eingereicht. Das Initiativkomitee bestand aus einer rund 30köpfigen Gruppe von Parlamentarierinnen und Parlamentariern bürgerlicher Provenienz, darunter auch der spätere Bundesrat Joseph Deiss. Pro Memoria: ein paar Monate nach Einreichung, am 24. Oktober 1999, fanden Nationalratswahlen statt.

Die Wahlkampflokomotive forderte ein Verbot für die Diskriminierung von Menschen mit körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderungen. Insbesondere wollte sie behindertengerechte Zugänge zu Bauten und Anlagen aller Art schaffen. Als indirekter Gegenvorschlag wurde im Dezember 2002 das Behindertengleichstellungsgesetz auf den Weg gebracht. Der Gegenvorschlag bewirkte, dass die Initiative am 18.05.2003 mit 62,4 Prozent der Stimmen abgelehnt wurde.

Doch das Gesetz gilt und nahm die wesentlichen Forderungen der Initiative auf. So gilt für die Schaffung behindertengerechter Zugänge im OeV eine Übergangsfrist, die Ende dieses Jahres abläuft.

Aber gemäss der Einschätzung von Behindertenorganisationen sind die Vorgaben alles andere als umgesetzt. Caroline Hess-Klein von «Inclusion Handicap» sagt, noch immer seien über 70 Prozent aller Haltestellen noch nicht so ausgestaltet, dass autonomes Ein- und Aussteigen für Menschen mit Behinderungen möglich ist. (Luzerner Zeitung 06.02.2023).

Ein Land mit Behinderungen für den Zugang zum öffentlichen Verkehr. Kurz und gut: Die Schweiz ist ein „Schwellenland“. Doch sie ist es im Grunde nur deshalb, weil aus einer Wahlkampflokomotive eine Vollzugskeule wurde, die nun zahlreiche Gemeinden in Misskredit bringt.

Was tun?

Möglichkeit 1 – Man kann es politisch ausschlachten. Einmal mehr werde der Volkswille nicht umgesetzt. Beispiele gibt es zur Genüge, man muss nicht mal zur Mutterschaftsversicherung zurückgreifen, die auf einen Verfassungsauftrag aus dem Jahre 1945 zurückgeht und jahrzehntelang auf Erfüllung warten musste.

Möglichkeit 2 – Man kann einen Investitionsschub auslösen und die Erfüllung der gesetzlichen Vorgaben beschleunigen. Das würde vermutlich viel Geld kosten.

Möglichkeit 3 – Man kann die Achseln zucken und zur Tagesordnung übergehen. Die wahrscheinlichste Variante.

Möglichkeit 4 – Man kann das Gesetz anpassen, eine rechtlich saubere Grundlage schaffen und eine neue Deadline setzen. Aus meiner Sicht wäre das demokratisch richtig. Eine Diskussion darüber, was eine gute, aber auch angemessene und vernünftige sowie auch wirtschaftlich tragbare Behindertenpolitik wäre, täte vermutlich gut.

Das Beispiel zeigt einmal mehr, was für Spätfolgen Wahlkampfaktionen haben können.