Wer in irgendeiner Gemeinde in irgendeinem Kanton lebt – und das tun wir ja alle – hat selten den Überblick darüber, wie Demokratie in anderen Gemeinden geregelt ist, geschweige denn in anderen Kantonen.

Haben Sie zum Beispiel gewusst, dass das Recht auf Volksinitiativen in den Gemeinden je nach Kanton völlig unterschiedlich geregelt ist? Wir sind uns gewöhnt daran, dass es überhaupt keine Rolle spielt, ob wir in Stans oder in Basel wohnen, wenn es um das Unterzeichnen einer Volksinitiative auf nationaler Ebene geht. Es braucht einfach 100’000 Unterschriften im Gesamten, man hat eineinhalb Jahre Zeit zum Sammeln und auf einem spezifischen Unterschriftenbogen können nur Stimmberechtigte aus derselben Gemeinde unterschreiben.

Auf kommunaler Ebene sieht das völlig anders aus. Im Kanton Wallis beispielsweise ist das Initiativrecht auf Gemeindeebene grundsätzlich gar nicht gegeben. Die Gemeinden können es aber, wenn sie wollen, im Rahmen von Reglementen einführen, die in der Kompetenz der sogenannten «Urversammlung» oder des «Generalrats» liegen. Der Kanton Appenzell Innerrhoden lässt die Frage offen. Die Kantone Tessin, Schaffhausen und Freiburg geben Regelungen nur für jene Gemeinden vor, die über ein Parlament verfügen. Und so weiter und so fort. Kantone regeln das unterschiedlich.

Zu finden sind diese Beispiele in einem neuen, sehr lesenswerten Buch von Professor Adrian Vatter und Politologin Martina Flick. Das Buch trägt den Titel «Direkte Demokratie in den Gemeinden» und ist in ihrer Form etwas noch nie Dagewesenes.

Das Ziel des Buches lag darin, eine Lücke zu schliessen. Es gibt kaum Untersuchungen zur direkten Demokratie auf kommunaler Ebene. Nur Bund und Kantone sind abgedeckt. Welche Institutionen gibt es wo? Wie sieht es wo in der Praxis aus? Was hat der Bürger auf kommunaler Ebene zu sagen? Man weiss es vielleicht in der Gemeinde, in der man gerade wohnt, von anderen weiss man wenig. Dabei gilt die kommunale Ebene vielen Politikern als Einstieg und Sprungbrett zu höheren Weihen. Ja, die kommunale Ebene gemäss den Autoren die «Schule der Demokratie» schlechthin. Das Buch will denn auch einen Beitrag leisten zur Verbesserung der «Qualität demokratischer Entscheidungsstrukturen und zur Erreichung demokratiepolitischer Ziele im lokalen Raum». Es geht um Verfahren und Gebrauch der Volksrechte auf kommunaler Ebene. Lauter Informationen, die für alle Gemeindeverantwortlichen hilfreich sind.

Untersucht wird nicht nur die Struktur, sondern auch die Nutzung direktdemokratischer Instrumente (i.e. Referenden und Initiativen) auf kommunaler Ebene mit Analyse von Erfolgsquoten und Beteiligungen. Interessanterweise wird die kommunale Ebene nicht als Einheit erfasst. Gemeinden mit über 50’000 Einwohnern werden als «Städte» bezeichnet und ihnen ist ein Sonderkapitel gewidmet. Als Begründung wird angeführt, dass diese als Hochburgen gelten, wenn es um die Nutzung demokratischer Instrumente geht.

Die Analysen kulminieren vor allem in vier Erkenntnissen.

  1. Die Instrumente der Volksrechte sind in der ganzen Schweiz in gleicher Weise weit verbreitet, werden aber in der deutschen Schweiz wesentlich häufiger auch genutzt als in der Westschweiz.
  2. Die Zugangshürden für Volksinitiativen sind in den Gemeinden mit bis zu 15 Prozent der Stimmberechtigten wesentlich höher als im Durchschnitt der kantonalen Ebenen (zwischen 0,7 ZH und 4,2 Prozent GE). Wo die Hürden sehr hoch sind, nimmt die Nutzungshäufigkeit ab.
  3. Volksinitiativen auf kommunaler Ebene – notabene vor allem ein Phänomen der grösseren Städte – haben eine signifikant höhere Annahmechance als jene auf kantonaler oder Bundesebene. Besonders gut sind Chancen dort, wo die Zugangshürde besonders hoch ist. Was auch auf Bundesebene der Fall sei. (Wobei es hier allerdings ein krasses Gegenbeispiel gibt: Die Volksinitiative der Krankenkassen beispielsweise wurde mit rekordhohen fast 400’000 Unterschriften eingereicht, erfuhr aber am 16.02.1992 mit rund 60 gegen 40 Prozent eine herbe Niederlage).
  4. Die Stimmbeteiligung auf kommunaler Ebene wird massgeblich durch die zeitgleich vorgelegten nationalen Vorlagen bestimmt. Dies dürften Gemeindeverantwortliche bei der Ansetzung der nächsten Abstimmung zu beherzigen versuchen!

Mit diesem Buch wird für die Schweiz, die als «Weltmeisterin der direkten Demokratie» (Vatter/Witzig) gilt, eine wichtige Lücke geschlossen. Hinter der rund 200seiten starken Ausgabe steckt sehr grosser Fleiss. Es zeigt die grosse Vielfalt auf, die landauf landab vorherrscht. Und es zeigt den Bedeutungsunterschied zwischen urbanen und ländlichen Gegenden. Bestärkt wird das Urteil, wonach Städte «links» regiert werden, was für bürgerliche Politiksegmente natürlich ein Aergernis darstellt.

Im Grunde müsste man jetzt das Standardwerk der Kantone, Fritz René Allemanns «25 mal die Schweiz» aus dem Jahre 1977 endlich mal neu aufdatieren und überarbeiten unter Bezugnahme auf die demokratischen Instrumente, die je nach Kanton völlig unterschiedlich sind und man nicht so recht weiss warum. Die Frage stellt sich doch, wie sich diese unterschiedlichen Regelungen entwickelt haben und wo die Gründe dafür liegen, dass die kantonalen Spielräume je nach Gemeinde völlig unterschiedlich ausgenutzt werden.

Das Buch ist in der Reihe «Politik und Gesellschaft in der Schweiz» erschienen. Als Datengrundlage diente unter anderem SWISSUbase.

Die Komplexität der Materie und die Dichte der dargereichten Informationen stellt zuweilen eine gewisse Herausforderung für die Lesefreundlichkeit dar. So ist der beispielsweise der Hürden-Index  für die Ergreifung direktdemokratischer Instrumente entgegen der intuitiv erwarteten Skalierung invers gesetzt, so dass nicht die höchste Note der höchsten Hürde entspricht, sondern umgekehrt. Das stete Umdenken stärkt jedoch die geistige Frische der Leserschaft.

Anderseits brilliert das Werk auch da und dort durch echte Trouvaillen. So ist beispielsweise transparent gemacht, dass im Kanton Schwyz die kantonalen Vorgaben für demokratische Instrumente in vielen Gemeinden gar nicht gelebt wird, was an sich politische Fragen aufwirft. Ich werde dem in einem späteren Blog-Beitrag nachgehen.