Führung, Vertrauen und Heimatgefühl – wie die Fusion Bern-Ostermundigen scheiterte

 

Ab 1. Januar 2025 hätten Bern und Ostermundigen eine neue Gemeinde namens «Bern» bilden sollen. Daraus wird nichts. Denn am 22. Oktober hat der Souverän der Agglomerationsgemeinde mit einer Mehrheit von 57 Prozent zum ambitiösen Projekt Nein gesagt. Gescheitert ist das Projekt, weil ein grosser Teil der Bevölkerung kein Vertrauen in die künftige Partnerin hatte. Zudem fehlte in der Schlussphase das klärende Wort der Ostermundiger Gemeinde-Exekutive.

Für die beiden Gemeindeparlamente ist die Sache abgehakt. Sowohl der Grosse Gemeinderat (GGR) Ostermundigen als auch der Berner Stadtrat, die beide gleichzeitig am Donnerstag nach der Abstimmung vom 22. Oktober tagten, mochten sich nicht mehr gross zum Scheitern des Fusionsprojektes äussern, das zum Ziel hatte, Ostermundigen und Bern per 1. Januar 2025 zu einer Gemeinde zusammenzuführen. Die rot-grüne Mehrheit des Stadtrates verweigerte die von Mitte-Rechts geforderte Debatte zur Frage, welche Schlüsse Fraktionen und Stadtregierung aus dem Ostermundiger Nein ziehen, zumal Bern, wo 72 Prozent der Abstimmenden Ja zur Fusion mit der Agglomerationsgemeinde gesagt hatten, «eine Mitschuld und Mitverantwortung» trage, dass das Generationenprojekt gescheitert sei, wie eine FDP-Sprecherin sagte. Das Schweigen in Ostermundigen war hingegen nicht die Folge eines Mehrheitsbeschlusses, sondern ist eher als Ausdruck dafür zu werten, dass man lieber zum Alltag (sprich: Behandlung von Finanzplan und Budget 2024) übergehen wollte, statt Vergangenes aufzuwärmen. Zudem war das Volksverdikt mit einer 57-prozentigen Nein-Mehrheit so deutlich gewesen, dass kaum mehr Raum für Interpretationen blieb.

Lehren für andere Gemeinden

 

Bedeutet das parlamentarische Schweigen, dass das Thema Fusion zwischen Bern und Ostermundigen nach dem Debakel vom 22. Oktober 2023 tatsächlich zu den Akten gelegt werden kann? Ich meine, nein. Denn es lohnt sich durchaus, nach den Gründen zu fragen, warum Ostermundigen das Ergebnis eines mustergültig aufgegleisten und durchgezogenen Prozesses derart massiv zurückgewiesen hat. Aus einer vertieften Analyse könnten meines Erachtens auch Lehren für andere Gemeinden gezogen werden, die über ein ähnliches Projekt nachdenken.

Meine Überlegungen sind weder abschliessend noch objektiv. Für eine fundierte Auswertung des Fusionsprojekts bräuchte es eine vertiefte Recherche auf wissenschaftlich-objektiver Basis. Was hier folgt, ist die Sicht eines Ostermundiger Befürworters, der als Vertreter seiner Partei (Die Mitte) in der Begleitgruppe KOBE des Gemeinderates tätig war und in dieser Funktion in Bezug auf Informationen über das Projekt und den Fortgang der Verhandlungen in gewisser Hinsicht privilegiert war.

«Bestmöglich umgesetzt»

In der Botschaft zur Ostermundiger Gemeindeabstimmung vom 22. Oktober 2023 schreibt der Gemeinderat: «Der Gemeinderat hat in den vergangenen rund 24 Monaten intensiv, hartnäckig, ausdauernd und mit taktischem Geschick die Fusionsverhandlungen mit der Stadt Bern geführt. Das vorliegende Verhandlungsergebnis (…) wird vom Gemeinderat Ostermundigen als sehr gut und umfassend erachtet. Der Auftrag des Parlaments ist bestmöglich umgesetzt worden und alle Stakeholder (Begleitgruppe KOBE, Bevölkerung, Mitarbeitende etc.) sind in den Prozess einbezogen worden.»

Damit wollte der Gemeinderat Ostermundigen seinen Bürgerinnen und Bürgern klarmachen, dass der Fusionsvertrag das Ergebnis von intensiv geführten Verhandlungen war und nicht ein Diktat der Stadt Bern. Er erinnerte gleichzeitig auch an den Auftrag des Parlaments und unterstrich so seine Legitimation. Mehr noch: Indem der Gemeinderat sagte, dass dieser Auftrag «bestmöglich» umgesetzt worden sei, signalisierte er, dass er beim Verhandlungspartner einige Zugeständnisse zugunsten Ostermundigens erreicht hatte. Denn der Grosse Gemeinderat hatte vor den Verhandlungen einige harte Brocken als «nicht verhandelbare Bereiche» definiert, so die Weiterführung der aktuellen Ortsplanungsrevision O’Mundo, die Fortsetzung der laufenden Planungen im öffentlichen Verkehr und bei den Schulen sowie die Beibehaltung des bestehenden kommunalen Energierichtplans. Zudem sollten die Gemeindeangestellten in der fusionierten Gemeinde zum gleichen Lohn und gleichen Bedingungen mit möglichst vergleichbaren Aufgaben angestellt werden.

Viel für die Gemeinde erreicht

Dass der Gemeinderat in den Verhandlungen über die «nicht verhandelbaren Bereiche» hinaus für Ostermundigen noch mehr erreichte, konnten die Stimmberechtigten der Abstimmungsbotschaft ebenfalls entnehmen. So würden die Ostermundiger Vereine und Organisationen oder Anlässe wie das «Mundige Fescht» im gleichen Umfang wie bis anhin finanziell unterstützt. Die Steueranlage würde jener der heutigen Stadt Bern entsprechen (was zu einer Steuersenkung führen würde). Zudem gäbe es bessere Leistungen im Bereich der Kinderbetreuung. Beim Personal einigte man sich zudem auf Pensionsalter 63 für die Ostermundiger Angestellten (bisher 64 bzw. 65) und bessere Anstellungsbedingungen. Auf Druck der Parlamente der beiden Gemeinden schliesslich wurden sogenannte Prüfungsaufträge in den Fusionsvertrag geschrieben, so die Entwicklung einer Strategie für die fusionierte Gemeinde, für eine effizientere Verwaltung, für die Evaluation eines neuen Modells für die Stadtregierung sowie die Reform der Mitwirkung der Stadtteile.

Dieser letzte Prüfungsauftrag war ein Zückerchen dafür, dass Ostermundigen mit seiner Forderung für einen garantierten Sitz im Gemeinderat nicht durchgedrungen war. Um die Partizipation des neuen Stadtteils Ostermundigen zu stärken, waren im Fusionsvertrag nun eine «fusionsbeauftragte Person» sowie eine Stadtteilkommission vorgesehen. Mit dieser von den Stimmberechtigten des Stadtteils Ostermundigen gewählten Kommission würde die fusionierte Gemeinde Neuland betreten. Sie könnte dem Gemeinderat zu allen fusionsrelevanten Geschäften Anträge unterbreiten. Sie würde zudem die Leistungsverträge mit den Ostermundiger Vereinen und Organisationen abschliessen und identitätsstiftende Anlässe in Ostermundigen finanziell unterstützen. Das heisst, dass sie über ein eigenes Budget verfügen würde. Sie nimmt zudem bei allen gesamtstädtischen Vernehmlassungen und Mitwirkungen Stellung. In den ersten vier Jahren nach der Fusion würde die Kommission von der «fusionsbeauftragten Person» geleitet, die darüber hinaus als Anlaufstelle für die Anliegen der Bevölkerung, des Gewerbes und der Vereine des neuen Stadtteils dienen würde. Sie nimmt bei allen fusionsrelevanten Geschäften an den Sitzungen des Gemeinderats der fusionierten Gemeinde teil, allerdings nur mit beratender Stimme und Antragsrecht.

Guter Vertrag ohne Reformballast

Auftrag vom Gemeindeparlament, intensive Gespräche mit den Parteien, Vereinen, mit dem Gewerbe, beispielhafte Kommunikation in den Quartieren und bei gut besuchten Informationsveranstaltungen und Ausstellungen, reger Austausch mit der Bevölkerung sowie eine attraktive Webseite und schliesslich ein guter Vertrag ohne zusätzlichen Reformballast – besser hätte es der Gemeinderat vermutlich nicht machen können, was ihm auch in der öffentlichen Vernehmlassung im Herbst 2022 mehrheitlich attestiert wurde. Und trotzdem hat das Projekt Schiffbruch erlitten. Warum nur?

Wenn wir von den Gründen sprechen, die zur massiven Ablehnung in Ostermundigen geführt haben, stellen wir fest, dass es letztlich immer um emotionale Aspekte und um Vertrauen bzw. Misstrauen ging, auch bei der Frage, wie der Gemeinderat seine Führungsaufgabe im Vorfeld der entscheidenden Abstimmung vom 22.Oktober 2023 wahrgenommen hat.

«Respekt gegenüber Parlament und Souverän»

 

In der Abstimmungsbotschaft schrieb der Gemeinderat: «Aus der Sicht des Gemeinderats halten sich die Vor- und Nachteile einer Fusion (…) die Waage. Die unterschiedlichen politischen Prioritäten und die persönlichen Einschätzungen der Exekutiv-Mitglieder zu diesem weitreichenden Entscheid führten dazu, dass der Gemeinderat bei der Empfehlung zur Fusionsfrage uneins ist. Der Gemeinde spricht sich deshalb weder für noch gegen die Fusion mit der Stadt Bern aus.» Bei der Präsentation des Verhandlungspakets im April 2023 hatte Gemeindepräsident Thomas Iten dazu noch ergänzt: «Der Verzicht auf eine Empfehlung des Gemeinderats mag auf den ersten Blick nach einem unverbindlichen oder gar mutlosen Entscheid aussehen. Letztlich nimmt der Gemeinderat damit aber seine Verantwortung gegenüber dem Parlament und dem Stimmvolk wahr.» Die politische Würdigung des Verhandlungsergebnisses müsse das Parlament vornehmen und anschliessend das Stimmvolk den verbindlichen Entscheid vornehmen. Iten weiter: «Das hat nichts mit Mangel an Leadership zu tun, sondern zeugt von Respekt gegenüber Parlament und Souverän.»

Mit diesem Nicht-Entscheid missachtete der Gemeinderat die wichtigste Empfehlung, die ihm einer der Verantwortlichen für die erfolgreiche Fusion Luzern/Littau (1. Januar 2010) zu Beginn des Fusionsprozesses mit auf den Weg gegeben hatte. Danach könne eine Fusion nur gelingen, wenn die zuständigen Behörden voll dahinter ständen und eine entsprechende Führungsrolle wahrnähmen.

Orientierungsmöglichkeit fehlte

Die Enthaltung des Gemeinderats war für den Ausgang der Abstimmung fatal, da sich die Stimmberechtigten bei ihrem Entscheid erfahrungsgemäss an der Haltung der Behörden orientieren, gerade bei komplexen Vorlagen, wie es die Fusion mit der umfangreichen Dokumentation eine solche war. Ausgerechnet in diesem Fall fehlte diese Orientierungsmöglichkeit. Das führte bei jenen, die nicht a priori für bzw. gegen die Fusion eingestellt waren, zu massiver Verunsicherung, die bei den meisten schliesslich in ein Nein mündete: Wenn denn schon der Gemeinderat, der die Verhandlungen geführt und zum Ergebnis geschrieben hatte, es trage «der Charakteristik von Ostermundigen Rechnung» und respektiere die Identität der Agglomeration, nicht überzeugt hinter diesem Ergebnis stehen kann, wie soll ich dann als Bürgerin oder Bürger dazu Ja sagen können?

Die Haltung des Gemeinderats war nicht vertrauensbildend, was für eine Ja-Mehrheit dringend nötig gewesen wäre. Im Vorfeld der Abstimmung wurde ein allgemeines Misstrauen gegenüber der Stadt Bern als Partnerin immer stärker spürbar. Würden die Zusicherungen für Ostermundigen, die im Vertrag festgehalten worden waren, auch vollumfänglich umgesetzt? Von «Berner Diktat» war die Rede. Dass man in Ostermundigen der rot-grünen Mehrheit und der im Vergleich zur eigenen tendenziell konsensorientierten Art des Politisierens härteren Gangart in der Stadtberner Politik mehrheitlich schon lange skeptisch bis ablehnend gegenüber stand, brach jetzt voll durch. Die jüngsten Probleme, die sich in der Stadt bei der Realisierung von IT- und Bau-Grossprojekten sowie in der Finanzpolitik manifestierten, legten bei vielen Ostermundiger Bürgerinnen und Bürger zusätzlich die Vermutung nahe, dass Bern vermutlich doch nicht die leistungsfähige Partnerin war, als die sie sich in den Verhandlungen präsentierte.

Gegner mit klarem Narrativ

Doch auch mit Sukkurs durch den Gemeinderat hätte es die Befürworterseite schwer gehabt, sich in der Abstimmung durchzusetzen. Denn die Gegnerinnen und Gegner der Fusion hatten von Anfang an ein klares, eingängiges Narrativ, mit dem sie die emotionale Bindung der Bevölkerung zu ihrem Dorf ansprachen. Der Fusionsvertrag sei eine Mogelpackung, mit der Fusion würde Bern Ostermundigen «eingemeinden», sprich: mit gierigem Blick auf die Landreserven auffressen, hiess es. Und weiter: Ostermundigen würde seine Identität und seine Eigenständigkeit verlieren. In der fusionierten Gemeinde hätten Mundigerinnen und Mundiger nichts mehr zu sagen.

Mit dieser Argumentation gewannen die Gegner die Herzen der Menschen in Ostermundigen und damit auch die Abstimmung. Dem hatten die Befürworter zwar vieles entgegenzusetzen, so den niedrigeren Steuerfuss, die besseren Leistungen für die Kinderbetreuung, bessere Dienstleistungen dank Integration in eine grössere Verwaltung, den Image-Gewinn als Teil der Bundesstadt. Darauf jedoch liess sich kein ebenbürtiges Ja-Narrativ aufbauen. Denn dies waren alles Versprechen, einlösbar erst in der Zukunft. Damit konnte man der Bevölkerung wenig Konkretes in die Hand geben, selbst wenn die meisten dieser Versprechungen in den Fusionsdokumenten festgehalten und gesichert waren. Würden sie auch umgesetzt werden, fragten sich viele und entschieden sich angesichts ihrer Zweifel und Bedenken gegen die Veränderung: Das Nein zur Fusion als Bekenntnis zum Bestehenden und Vertrauten.

Weiterführende Informationen über den Fusionsprozess mit Link zu allen Dokumenten: