Kommunalmanagement: Herr Eichenberger, Meggen hat die Gemeindeversammlung abgeschafft. Andere Gemeinden kämpfen auch mit einer niedrigen Beteiligung. Ist die Gemeindeversammlung demnach ein Auslaufmodell?
Reiner Eichenberger: Auf den ersten Blick haben Gemeindeversammlungen ein Problem: Infolge erhöhter Wohn- und Pendelmobilität der Bevölkerung und einem riesigen Ausländeranteil – bei den 30-35 Jährigen liegt er gesamtschweizerisch mittlerweile bei 40 Prozent – nimmt das Engagement der stimmberechtigten Einwohner für die Wohngemeinde ab. Viele von ihnen sind eigentliche «Schlafbürger», kennen nur noch wenige andere Gemeindebürger und vielleicht keinen einzigen lokalpolitisch aktiven Bürger und sind gedanklich kaum noch engagiert. Zugleich interessiert sich ein grosser Teil der Bevölkerung wenig für Politik, weil sie nicht mitbestimmen können. So hat die Gemeindeversammlung ihren Charakter als allgemeinen Treffpunkt verloren. Aber auf den zweiten Blick sieht es ganz anders aus: Die erwähnten Probleme und Mechanismen gelten auch für die Politik und den öffentlichen Diskurs in der Gemeinde ganz allgemein. In Parlamentsgemeinden haben viele Bürger kaum noch Ahnung, was im Parlament läuft. Dadurch droht sich das Parlament von der Bevölkerung und den realen Problemen abzulösen. Deshalb gilt: Die gesellschaftlichen Veränderungen treffen die Parlamentsgemeinden noch stärker, nur sieht man das da weniger, da die Beteiligung nicht so gut sichtbar ist wie an der Gemeindeversammlung.
Tatsächlich ist die Gemeindeversammlung wieder top modern. Da klagen viele, der öffentliche Diskurs fände mehr und mehr in Echoräumen und Blasen statt, und die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen kommunizierten nur noch unter sich aber nicht mehr miteinander. Die Gemeindeversammlung bietet genau diesen offenen, problemorientierten Diskurs zwischen den Gruppen. Wo das nicht zutrifft, liegt die gute Lösung keinesfalls in der Abschaffung der Gemeindeversammlung, sondern in der Schaffung von Bedingungen, die den kritisch-konstruktiven Diskurs fördern.
Kommunalmanagement: Wie könnte man diese Bedingungen gestalten?
Reiner Eichenberger: Ich habe zusammen mit Mark Schelker die Funktion der volksgewählten Rechnungsprüfungskommission (RPK, in manchen Kantonen auch Finanz- und Geschäftsprüfungskommissionen) in den Gemeinden mit Gemeindeversammlung erforscht. Die Gemeindeversammlung erbringt insbesondere in Kombination mit einer starken RPK bessere Politikergebnisse als ein Parlament. Die Stärke der RPK wird insbesondere durch drei Aspekte definiert: Kann sie vor (oder nur nach) Entscheidungen Stellung nehmen? Kann sie zu Einzelgeschäften (oder nur zum Gesamtbudget oder noch schlimmer nur zur Rechnung) Stellung nehmen? Und kann sie die wirtschaftliche Sinnhaftigkeit (oder nur die finanzielle Tragbarkeit) von Projekten prüfen? Zwischen einer starken RPK und der Gemeinderegierung besteht ein konstruktiver Wettbewerb und die Information der Bürger wird massiv verbessert. So erhöht sich die Qualität der Gemeindeversammlungen und macht ihren Besuch für die Bürger attraktiver.
Kommunalmanagement: Wäre es sinnvoll, die Abschaffung der Gemeindeversammlung in grösseren Gemeinden damit zu koppeln, dass man ein Gemeindeparlament einführt oder sehen Sie eher den Ersatz durch Urnenabstimmungen?
Reiner Eichenberger: Die Frage lautet genauer: Sollen nach Abschaffung der Gemeindeversammlung die Bürger in Urnenabstimmungen, ein Parlament, oder die Regierung entscheiden? Da die Bürger in Urnenabstimmungen kaum über alles entscheiden können, was sie in Gemeindeversammlungen entschieden haben, wird bei Ersatz der Gemeindeversammlung durch Urnenabstimmungen der Entscheidungsspielraum der Regierung ebenfalls erweitert.
Grundlegend für die Qualität der Politik ist, dass es intensiven aber konstruktiven Wettbewerb gibt. Dafür ist es entscheidend, wenigstens zwei konkurrierende volksgewählte Gremien zu haben. Entweder Regierung und Parlament, oder die Regierung und eine starke Rechnungsprüfungskommission – die aber nicht nur die Rechnungen, sondern die Projekte der Regierung auf ihre Sinnhaftigkeit prüfen soll. Dabei spielen natürlich finanzielle Aspekte eine zentrale Rolle, aber eben nicht nur. Noch besser wäre es mE, drei konkurrierende Gremien zu haben. Bei Gemeindeversammlung hat man das, nämlich Gemeindeversammlung, die RPK und die Regierung. In Parlamentsgemeinden sollte deshalb auch eine volksgewählte RPK eingeführt werden. Zusammen mit Mark Schelker vertrete ich das Konzept von volksgewählten Gegenvorschlagskommissionen. Sie sollen in Mehrheitswahlen bestellt werden, so dass die Mitglieder politisch eingemittet sind. Sie sollten ein Mandat haben, die Vorschläge des Parlaments auf ihre finanzielle und gesellschaftliche Nachhaltigkeit zu prüfen, konkrete Vorschläge zu erarbeiten und diese dem Volk als Gegenvorschlag zum Parlamentsprojekt zur Abstimmung vorzulegen.
Kommunalmanagement: Sehen Sie in der Praxis Ihrer Beobachtungen unterschiedliche Ansätze in Gemeindeverammlungen? Solche, die nur die quasi statutarischen Geschäfte abhandeln und andere, die in der Beteiligung weitergehen?
Reiner Eichenberger: Die Aufgabe der Gemeindeversammlung soll umfassend sein. Alle Geschäfte sollen an die Gemeindeversammlung gehen. Es soll aber für sehr grosse Geschäfte ein obligatorisches und für die mittleren Geschäfte ein fakultatives Referendum geben, mit dem für Gemeindeversammlungsentscheidungen eine Urnenabstimmung verlangt werden kann. Das Referendum senkt zwar die Entscheidungskraft der Gemeindeversammlung. Aber dank der Referendumsmöglichkeit lohnt es sich dann weniger, die Gemeindeversammlungsentscheidungen ungebührlich zu beeinflussen oder gar zu manipulieren. So wird der Diskurs an der Gemeindeversammlung aufrichtiger und ernsthafter, was schlussendlich ihre gesellschaftliche Rolle und Bedeutung stärkt.
Kommunalmanagement: Ein wichtiges Geschäft für jede Gemeinde ist das Leitbild und die Legislaturziele. Sind Sie der Auffassung, diese Themen sollten in Gemeindeversammlungen diskutiert und beschlossen werden?
Reiner Eichenberger: Das Leitbild einer staatlichen Gemeinschaft gehört in die Verfassung, also in die Gemeindeordnung. Da dürfte es aber eher abstrakt und in den meisten Gemeinden sehr ähnlich formuliert werden. Aber es ist trotzdem nicht bedeutungslos. Ich denke zB, dass explizit gesagt werden sollte, es gehe um die Lebensqualität und den Wohlstand der Bürger, ein gutes Preis-Leistungsverhältnis der Staatsleistungen, um Effizienz und um qualitatives Wachstum. Denn vielen Politikern geht es eher um quantitatives Wachstum, sprich sie haben es gerne, wenn die Bevölkerung wächst und so die Steuereinnahmen sprudeln und die Budgets wachsen.
Ich würde davon abraten, dass die Gemeindebevölkerung sich selbst oder der Regierung Legislaturziele vorgeben soll. Die Bürger und die Gemeindeversammlung müssen möglichst frei über die anstehenden und oft schwer voraussehbaren Probleme entscheiden können. Falls die Ziele eng definiert werden, sind sie später zu einschränkend. Falls sie weit gezogen werden, sind sie unbedeutend. Was aber relevant ist, ist das Festlegen von Entscheidungsregeln. Dies gehört aber ebenfalls in die Gemeindeordnung und nicht in Leitbilder und Legislaturziele. Andererseits kann es sinnvoll sein, längerfristige strategische Ziele explizit festzulegen, zB wenn eine Gemeinde sich längerfristig von einer Hochsteuer- zu einer Tiefsteuergemeinde mausern soll.
Hingegen ist es sinnvoll, dass sich die Regierung selbst Legislaturziele gibt und diese an der Gemeindeversammlung kommuniziert, die Bürger und die RPK die Ziele kommentieren können und die Gemeinderegierung allfälligerweise nochmals nachdenkt und die Formulierung anpasst.
Reiner Eichenberger ist ordentlicher Professor für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg in der Schweiz und Forschungsdirektor des Center for Research in Economics, Management and the Arts (CREMA). Das Interview führte Bruno Hofer Kommunalmanagement.